Interview mit Wolfgang Grambs
Sie haben den Begriff „LÜKEX“ erfunden und das Konzept stark geprägt. Wie kam es überhaupt dazu? Was war der Auftrag?
Der Auftrag zur LÜKEX kam aus dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat (kurz: BMI). Nach drei Schlüsselereignissen hatte man festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland mit den Strukturen und Vorbereitungen im Bereich des Katastrophenschutzes nicht mehr ausreichend handlungsfähig ist. Das waren der Sturm Lothar in Süddeutschland 1999, die Anschläge vom 11.September in New York mit den Folgeerscheinungen und das Hochwasser an Elbe/Oder im Sommer 2002.
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (kurz: BBK) gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, das war noch die Zentralstelle für Zivilschutz im Bundesverwaltungsamt, Zivil- und Katastrophenschutz hatten zu dieser Zeit keinen großen Stellenwert in Deutschland.
Anfang 2003 haben wir mit den Planungen für die LÜKEX an der damaligen Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (kurz: AKNZ) mit dem damaligen Akademie-Leiter Herrn Läpke angefangen, mit einem weißen Blatt Papier und einer Idee. Dort hatte man schon wertvolle Erfahrungen mit Katastrophenschutz-Übungen und hatte auch schon einige kleinere Übungen gemacht. Er kannte alle wichtigen Leute. Wir sollten dann ans BMI melden, was wir planen. So fing das Ganze an. Im Mai 2004 wurden dann das heutige BBK und damit die heutige AKNZ gegründet und im späten November 2004 dann die erste LÜKEX durchgeführt.
Wie fühlt sich das an, wenn man den Auftrag bekommt, etwas ganz Neues zu erschaffen?
Das war eine spannende Sache für mich, nach 33 Jahren als Generalstabsoffizier in der Bundeswehr dann noch mal was völlig Neues zu machen. Es gab eine gewisse Verwandtschaft mit dem, was ich vorher im militärischen Bereich (auch Zivilmilitärische Zusammenarbeit) getan hatte, aber halt dann doch in einem völlig anderen Feld und in der zivilen und föderalen Umgebung. Für mich war das eine große Herausforderung und eine tolle Sache. Wann hat man schon mal im Leben Gelegenheit, auf dieser strategischen Ebene und in dieser Größenordnung was völlig Neues aufzubauen. Wir hatten viel freie Hand, meist nur eine grobe linke, rechte Grenze, an die wir uns halten mussten. Die Übungsbeteiligung zum Beispiel in der ersten Übung oder als es dann um die Szenarien ging. Ich bin ein großer Befürworter von zukunftsorientierten und herausfordernden Szenarien. Je intensiver bestehende Verfahren, Konzepte und Strukturen auch im Grenzbereich beübt werden, desto deutlicher können auch Schwachstellen und Lücken sowie Handlungsempfehlungen im Erfahrungsbericht dokumentiert werden. Der politische und gesellschaftliche Wille ist dann erforderlich, prioritär die wesentlichen Empfehlungen zeitnah umzusetzen.
Wenn Sie an die Anfänge zurückdenken, was waren die hauptsächlichen Herausforderungen?
Vor der ersten Übung mussten wir Länder finden, die bereit waren, im bundesweiten Kontext mitzumachen. Am Anfang bin ich mit einer kleinen Präsentation des Übungskonzeptes losgefahren, zuerst als Einzelkämpfer, dann mit den Herren Läpke, Klink (für die polizeilichen Aspekte) und den anderen und habe mir fast überall Absagen geholt. Die Länder hatten erhebliche Bedenken, kein ausreichendes Personal und zu wenig Geld sowie gewisse „Ängste“ vor einer führenden Rolle des Bundes im bisher ausschließlich föderal geprägten Katastrophenschutz. Krisenmanagement mit bundesweitem und strategischem Ansatz gab es bis dato noch nicht. Es gab keine Krisenstäbe, keine Verwaltungsstäbe auf allen Ebenen sowie keine länderübergreifenden Verfahren und Strukturen im Krisenmanagement. Dies gilt auch für den Bereich der Kritischen Infrastrukturen. Wir konnten dann Bayern und Baden-Württemberg von der Übungsbeteiligung überzeugen und mit einem geringeren Übungsumfang kamen dann Schleswig-Holstein und Berlin dazu.
Das Szenario, ein wochen- bis monatelanger Stromausfall, war eine bis dahin fast undenkbare Herausforderung für die Energieversorger, das tägliche Leben und den Katastrophenschutz der Länder. Erst in dieser zeitlichen Dimension werden Kaskadeneffekte deutlich, die eine moderne Gesellschaft rasch in existentielle Nöte bringen können. Es ist schwierig, bei einer dreitägigen Stabsrahmenübung die Belastbarkeit des Gesamtsystems realistisch abzubilden. Wir haben deshalb das System des Zeitsprungs erstmals angewendet. Für die zivile Seite neu und eine ungewohnte zusätzliche Herausforderung für die Übungsstäbe. Gleiches gilt für die erstmalige Einbindung von Journalisten zur Abbildung der komplexen Medienwelt und die Vorproduktion und Einspielung von „Brennpunktsendungen“ in Zusammenarbeit mit dem Norddeutschen Rundfunk.
Was haben Sie persönlich mitgenommen aus dieser Anfangsphase der LÜKEX?
Für mich war LÜKEX ein Glücksfall, dass ich mit Anfang 50 noch einmal ein neues Großprojekt mit aufbauen konnte. Die Themen und Szenarien jeder LÜKEX waren auch eine persönliche Bereicherung und Weiterbildung für mich. Fast wie ein Studium durch die vielen Besprechungen, Workshops, die fachübergreifende Expertise aller Beteiligten auf nationaler und internationaler Ebene und die Erarbeitung eines Drehbuches mit über 3.000 Einzeleinlagen zum Beispiel für die Pandemie-Übung 2007. Die erstmalige Zusammenarbeit in dieser intensiven Art der Zusammenarbeit auf Bundesebene zwischen BMI und BBK und dem Bundesministerium für Gesundheit (kurz: BMG), sowie dem Robert-Koch-Institut (kurz: RKI) mündete in der Aufstellung und Beübung eines gemeinsamen Krisenstabes BMG und BMI. Mit der Übungsbeteiligung des European Centre for Disease Prevention and Control (kurz: ECDC) in Stockholm und der Gesundheitsbehörden der Europäischen Union wurden entscheidende Player eines weltweiten Infektionsgeschehens eingebunden.
Welcher Rote Faden zieht sich aus Ihrer Sicht durch 20 Jahre LÜKEX?
Ganz grob: Auch im föderalen Katastrophenschutz länderübergreifend denken und handeln. Rolle und Verantwortlichkeit des Bundes auch im Bevölkerungsschutz/Katastrophenschutz jenseits des Zivilschutzes (Spannungsfall oder Krieg) neu definieren, stärken und einüben. Belastbare länder- und bereichsübergreifende Strukturen, Verfahren, Zuständigkeiten und Abläufe aufbauen und weiter härten. Eine „strategische Ebene“ im Krisenmanagement oberhalb der operativ-taktischen Ebene der Länder nachhaltig etablieren. Der wichtigste Aspekt für alle Übungen: Alle Beteiligten für absehbare Zukunftsszenarien zu sensibilisieren und zu trainieren und damit die Gesamtgesellschaft resilienter zu machen.
Worin liegt für Sie der nachhaltige Nutzen der LÜKEX?
Das sind die Handlungsempfehlungen der Auswerteberichte und die Optimierung der länderübergreifenden Strukturen und Verfahren. Mittlerweile gibt es fast überall und auf allen Ebenen Krisen- oder Verwaltungsstäbe. Dort wo dies noch nicht der Fall ist, sieht man die Folgen exemplarisch an den katastrophalen Auswirkungen im Rahmen der Ahrflut 2021 mit 135 Todesfällen allein in Rheinland-Pfalz.
Man kennt sich nun besser in der gesamtgesellschaftlichen Krisenkommunikation mit all seinen und zum Teil immer noch unterschiedlichen Ansätzen und Regelungen im Bereich der Länder und in der bereichsübergreifenden und interministeriellen Zusammenarbeit. LÜKEX hat dazu beigetragen, dass der Bund mittlerweile u.a. mit dem BBK, dem RKI oder dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (kurz: BSI) ein fester Bestandteil des nationalen föderalen Krisen- und Katastrophenmanagements ist. Der Grundgedanke der LÜKEX – Krisenmanagement, Politik und Gesellschaft auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten – wurde mehrfach dadurch bestätigt, indem den Übungsszenarien reale Ereignisse (zum Beispiel Stromausfall, Pandemie, Cyber-Terrorismus, Gasmangellage) zeitnah gefolgt sind.
Was macht denn die LÜKEX aus Ihrer Sicht besonders?
Es war nicht nur in Deutschland eine völlig neue Art der zivilen Übung im Krisenmanagement und Katastrophenschutz, sondern meines Wissens nach in dieser Art auch weltweit. Begründet durch unser föderales Bevölkerungsschutz-System und der gesetzlichen Trennung zwischen Zivilschutz und Katastrophenschutz – auch im internationalen Vergleich nahezu einmalig – war und ist es eine besondere Herausforderung für alle Akteure mit einer „führenden Rolle“ des Bundes.
Was wünschen Sie der LÜKEX für die nächsten 20 Jahre?
Noch mehr nachhaltige Akzeptanz und Unterstützung durch Politik und Gesellschaft. Konsequentere Umsetzung der erkannten Optimierungsmöglichkeiten in Bund und Ländern.
Die Etablierung einer strategischen Übungskultur im Krisenmanagement Deutschlands oberhalb der taktisch operativen Ebene der Länder. Dies müsste meines Erachtens darin münden, dass Bevölkerungsschutz als neuer Grundwert im Grundgesetz verankert und die mittlerweile nicht mehr bedrohungsgerechte gesetzliche Trennung zwischen Zivilschutz und Katastrophenschutz im Grundgesetz überwunden wird. Das würde auch bedeuten, die notwendigen rechtlichen, politischen, finanziellen und strategischen Konsequenzen zu ziehen.
Was erwarten Sie von der LÜKEX, damit sie auch in 20 Jahren noch relevant ist?
Das richtige Fingerspitzengefühl für die Auswahl relevanter Szenarien. Zu erkennen, was in der Folgezeit an neuen Gefahren und Krisen auf uns zukommen könnte und diese strategisch umzusetzen. Die Szenarien werden ja nicht weniger und vor allem immer diffiziler. Anfang der 2000er Jahre gab es viele Themen noch gar nicht, wie weltweite Pandemien, Cyber, Klimawandel oder Desinformation. Der Weltraum mit seinen „Begehrlichkeiten“ wird in naher Zukunft hinzukommen und diese neuen Bedrohungslagen werden nicht mehr in einem Bundesland oder im Bundesgebiet alleine zu händeln sein, die internationale Koordination, Zusammenarbeit und zum Teil Verantwortung wird rasant zunehmen.
Außerdem erwarte ich eine noch stärkere Berücksichtigung der Auswirkungen der Maßnahmen des Krisenmanagements auf die Bedürfnisse, Forderungen aber auch Unterstützungsmöglichkeiten der Bevölkerung. Die Bevölkerung hat heutzutage ein ganz anderes Informationslevel. Das heißt nicht unbedingt, dass sie gut informiert ist, die Menschen haben sehr viele Informationen, nur leider oft die falschen. Daraus ein klares und verlässliches Lagebild zu erstellen, ist sehr schwierig. Vielleicht kann uns Künstliche Intelligenz hier in naher Zukunft schon entscheidend helfen. Das heißt aber auch, die Anforderungen an ein zeitgemäßes und bedrohungsgerechtes Krisen- und Katastrophenmanagement und damit auch an LÜKEX werden noch komplexer und herausfordernder. Dies wird weiteres Geld kosten, zusätzliches Personal und eine qualifiziertere Aus- und Weiterbildung erfordern.