Interview mit René Du Bois
In welcher Rolle haben Sie damals an der ersten Übung teilgenommen?
Ich war 2004 federführend für diese Übung. Zuvor war ich Leiter der Projektgruppe, die das Krisenmanagement im Bund und den Ländern untersuchen sollte. Das war ungefähr ein Jahr lang der Auftrag und nach dieser Projektgruppe wurde dann beim Staatssekretär im BMI ein Stab „Koordinierungszentrum Krisenmanagement“ eingerichtet. In diesem Stab habe ich den Bereich Krisenmanagement bis 2007 geleitet. Ende 2007 wurde dann die Abteilung Krisenmanagement/Bevölkerungsschutz eingerichtet, in dieser habe ich dann bis 2018 das Referat Nationales Krisenmanagement geleitet. Vor diesem Hintergrund habe ich von 2004 bis 2018 alle Übungen in der Federführung verantwortet.
Mich interessieren Ihre persönlichen Eindrücke von damals. Wie war das? Wie fühlte sich das an, als das Ganze aufkam?
Nach der letzten Winter Exercise (kurz: WINTEX) 1989 wurden die Strukturen im Zuge der „Friedensdividende“ nach der Wiedervereinigung weitgehend abgebaut und große Übungen fanden nicht mehr statt. Erst nach den Anschlägen in New York 2001 wurden viele Projekte der übergreifenden Zusammenarbeit neu aufgelegt, so auch in der Zusammenarbeit mit den Ländern und Ressorts. Gelegentliche „Ressort-Egoismen“ und Hemmnisse des Föderalismus wurden für eine gewisse Zeit hintenangestellt. So wurde damals gemeinsam die „Neue Strategie zum Schutz der Bevölkerung“ entwickelt. Und so haben wir 2004 gedacht, wenn wir schon nicht den Verteidigungsfall üben können, brauchen wir eine große Übung mit einer so bedeutsamen Lage, dass sie eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft darstellt, wie zum Beispiel ein langanhaltender großflächiger Stromausfall. Nur so war es möglich, die Strukturen zu beüben, die für alle großen Lagen gebraucht werden, also auch für das, wofür der Bund eigentlich zuständig ist, den Verteidigungsfall.
2004 haben wir mit 36 Landkreisen einen solchen Stromausfall geübt. Nun war deutlich, dass es in einigen Bundesländern, aber auch auf der Bundesebene in vielen Bereichen keine Strukturen gab, um mit solchen großen Lagen umgehen zu können. Ich kam ja damals aus dem Land Berlin und hier waren die Strukturen vorhanden. Das war die Ausgangslage für die LÜKEX. Die Länder sind damals im Prinzip davon ausgegangen und das war in einigen Katastrophenschutzgesetzen der Länder auch so angelegt, dass die Landkreise bei großen Lagen die Federführung innehaben und sich gegenseitig abstimmen. Nicht alle Länder hatten sich darauf vorbereitet, auch eskalierend auf der Ministerialebene koordinierend tätig werden zu können.
Was war für Sie damals die größte Herausforderung?
Die größte Herausforderung war einfach, die Motivation bei den vielen Akteuren zu erzeugen. Und da hat es natürlich sehr geholfen, dass wir zwei Kollegen für das „Vorhaben LÜKEX“ gewinnen konnten, die in verschiedensten Sicherheitsbereichen eine hohe Akzeptanz hatten. So war Herr Klink durch seine herausgehobene Verwendung im BKA im polizeilichen Bereich bekannt und akzeptiert. Oberst außer Dienst (kurz: a.D.) Grambs konnte vor dem Hintergrund seiner Verwendungen in der Bundeswehr und im Bundesministerium der Verteidigung (kurz: BMVg) überzeugend darstellen, warum es erforderlich ist, ein solches strategisch übergreifendes Zusammenwirken zu organisieren. Mit diesen beiden Herren und ein paar weiteren hochmotivierten Mitstreitern ist es gelungen, dieses völlig neue Projekt zu platzieren. Es war allen klar, dass eine so große Übung in vielen Bereichen zu zusätzlichem Aufwand führen wird und am Anfang der Nutzen für die vielen Betroffenen, den Ressorts, bei den Ländern und Landkreisen, noch nicht deutlich erkennbar sein wird. Daher war es so wichtig dafür zu werben, dass die Ressourcen, die in so ein Projekt investiert werden, gut angelegt sind. Die erste Übung LÜKEX 2004 musste in sehr kurzer Zeit – nur ein paar Monaten - realisiert werden. Später haben wir ein strukturierteres Verfahren zu Grunde gelegt und das war, glaube ich, die Schwierigkeit an sich. Nun mussten planbare Ressourcen und Strukturen bereitgestellt werden.
Welcher Aspekt hat sie damals am meisten beeindruckt?
Die Mitstreiter in der Projektgruppe im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (kurz: BBK), die waren in dieser ersten Stunde der Entwicklung eines solchen Projekts von entscheidender Bedeutung, durch ihr hohes Engagement und Überzeugungskraft fand das Vorhaben auch in Bund und Ländern schnelle weitere überzeugte Anhänger.
Besonders beeindruckt hat mich aber auch das hohe Engagement der Kolleginnen und Kollegen in den Fachressorts im Bund und in den Ländern über den gesamten Zeitraum der vielen Übungen. Sie waren überwiegend dankbar dafür, dass wir durch die unterschiedlichen Themenschwerpunkte ihre Fachplanung in den Mittelpunkt gerückt haben, diese überprüft werden konnten und eine Vernetzung mit Partnern hergestellt wurde. Das war wirklich beeindruckend, weil die Kolleginnen und Kollegen oftmals nur begrenzt auf den reinen fachlichen Zusammenhang tätig werden konnten und die Vernetzung in den Ländern und auch auf der Bundesebene doch teilweise schwierig war. Es war sehr verwunderlich, wenn sich bei den Arbeitstreffen, Workshops und Veranstaltungen, die wir zur Vorbereitung der Übungen durchgeführt haben, Kolleginnen und Kollegen aus dem gleichen Land kennenlernten. Also wenn sich zum Beispiel Kollegen aus dem Innenministerium eines Landes und dem Gesundheitsministerium des gleichen Landes erst durch die LÜKEX kennenlernen, obwohl beide an Krisenmanagementthemen im gleichen Land arbeiten. Hier hat sich auch durch die LÜKEX - Übungen einiges getan, so dass die übergreifende Zusammenarbeit wesentlich besser geworden ist.
Was haben Sie persönlich mitgenommen aus der langen Zeit, die Sie die LÜKEX begleitet haben?
Ich war parallel immer im BMI für das nationale Krisenmanagement zuständig. Dadurch und durch die LÜKEX ist ein großes Netzwerk an verlässlichen Kontakten entstanden, das uns bei der Bewältigung realer Lagen oft sehr geholfen hat. Wir konnten so viele Kenntnisse über verschiedenste Fachbereiche im Krisenmanagement gewinnen, die wir vorher natürlich begrenzt auf den eigenen Blickwinkel nicht hatten. Ein Beispiel ist die LÜKEX 2007, die Pandemieübung. Da ist es uns gelungen, die Strukturen und Verfahren im Gesundheitsbereich kennenzulernen und dann mit dem Krisenmanagement eng zu vernetzen. Das gleiche trifft auf die Übung 2018 zur Gasmangellage zu; Fachplanungen und Krisenmanagementplanungen wurden auch hier gemeinsam gedacht und beübt. Wir haben aber auch viele Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft und Wirtschaft kennengelernt, so dass wirklich ein großes Netzwerk entstanden ist, dass man in der täglichen Arbeit gut nutzen konnte.
Was war für Sie die wichtigste Erkenntnis aus der ersten LÜKEX?
Die erste LÜKEX war natürlich eigentlich die wichtigste, weil wir mit dieser Übung nachweisen mussten, dass ein großer Mehrwert darin besteht, in einer solchen Dimension in Deutschland eine strategisch-administrative Übung durchzuführen. Also haben wir in der ersten Übung politische Entscheidungsträger in die Krisenstäbe geholt. Wir haben mit den Ländern geübt, die bereits Krisenstrukturen hatten, so dass man auch nachweisen konnte, dass es sachgerecht und notwendig ist vom Landkreis über die Länderebene bis zum Bund eine durchgängige Abstimmung zur Lagebewältigung bis hin zur Koordination von Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation vorzunehmen. Wir haben mit der ersten Übung deutlich gemacht, wo die Notwendigkeiten der administrativen Zusammenarbeit liegen und welche Herausforderungen auf die Krisenstäbe zukommen können. Die Übung dauerte drei Tage und zwei Nächte. In ihr wurde mit Zeitsprüngen eine 14-tägige Stromausfalllage behandelt. Im Übrigen war diese Übung die Grundlage des einige Jahre später erschienen Bestsellers „Blackout“.
Was hat die LÜKEX in Ihrer Organisation, dem BMI, angestoßen?
Ganz viel. Also für das BMI war es wirklich die Erprobung der Hausanordnung zu Krisenstrukturen, die wir neu geschaffen hatten und die kontinuierlich angepasst wurden. Die erste Übung, wie gesagt, drei Tage durchgängig, hat gezeigt, welche Rolle die verschiedensten Bereiche in einem Ministerium haben. Also nicht nur die, die an der fachlichen Lagebewertung beteiligt sind, sondern auch die Verwaltungsbereiche, zum Beispiel für Unterbringung, Versorgung und Zugangsregelungen. Die mussten sich plötzlich darum kümmern, dass nachts nicht die Heizung abgesenkt wurde, eine sinnvolle Standardeinstellung zum Energiesparen, damit die Leute im Krisenstab nicht frieren. Es mussten Möglichkeiten zum Ruhen von Mitarbeitenden bereitgestellt werden, normalerweise sind Schlafgelegenheiten in Ministerien eher unüblich. Also ganz viele ganz praktische Dinge, die für Polizeien und Feuerwehren auf operativer Ebene selbstverständlich sind.
Und es hat ein hohes Bewusstsein im Ministerium dafür geschaffen, das Krisenmanagement alle Bereiche umfasst, bis hin zu Personalmanagement, das dafür sorgen musste, dass ausreichend Fachpersonal für Schichtwechsel da ist, weil die eigentlichen Referate oftmals ja gar nicht über die erforderliche Personalstärke verfügten, um drei Tage durchgängig bestimmte Aufgaben erfüllen zu können. LÜKEX ist und war ein Katalysator für die Weiterentwicklung des Krisenmanagements auf vielen Ebenen. So wurden unter aanderem verschiedenste Handreichungen und Checklisten entwickelt für die Verantwortlichen im BMI, für Staatssekretäre, für Stabsbereichsleitungen und so weiter. Solche Unterlagen sind unabdingbar, da nicht alle Mitarbeitenden täglich mit Krisenmanagementaufgaben betraut sind, in der Lage jedoch sehr schnell eine konkrete Rolle einnehmen müssen.
Welcher rote Faden zieht sich aus Ihrer Sicht durch die letzten 20 Jahre LÜKEX?
Dass die Vorbereitungsphasen den größten Mehrwert für alle Beteiligten haben. Hier haben sich in den Workshops, in Thementagen und Planungstreffen die Fachleute getroffen und ihre Planungen und ihr Handeln aufeinander abgestimmt. Viele haben auch erst mal die Nöte und Zwänge der anderen Partner kennengelernt. Das waren immer konkrete Erfolge, wenn Fachleute ihre Planung mit dem Rückenwind der LÜKEX deutlich praxisorientierter anpassen konnten.
Im Jahre 2009 trat in Deutschland die Schweinegrippe auf. Da zwei Jahre zuvor in der LÜKEX 2007 eine Pandemie geübt wurde, wurden dafür der nationale Pandemieplan frisch überarbeitet und die Strukturen des Zusammenwirkens auf diese Situation angepasst. Deshalb verlief die Lagebewältigung sehr eingespielt und ohne große Probleme. Ländergesundheits- und Innenministerien, die Fachleute des Bundesgesundheitsministeriums und des Robert-Koch-Instituts und viele weitere Beteiligte waren gut darauf vorbereitet mit dieser Herausforderung umzugehen. Auf Bundesebene saßen die Behörden bei mir im Ressortkreis "Nationales Krisenmanagement" am Tisch. Dort fanden die Abstimmungen statt und wir haben nicht einmal die Krisenstäbe aufrufen müssen. Die kompetente Lagebewältigung war natürlich ein Ergebnis dieses aktuellen nationalen Pandemieplans und der LÜKEX.
Leider zieht sich aber auch ein anderer roter Faden durch alle Übungen, nämlich, dass die Auswertung der Übung und die Erstellung des Abschlussberichts meist auch das Ende der Befassung mit den Erkenntnissen aus den einzelnen Übungen war. Nach meiner Einschätzung wurden je nach Übung sehr unterschiedlich nur 30 bis 50 % der erkannten Handlungsfelder auch wirklich nachbearbeitet und der Rest ist dann dem schnellen Alltagsgeschäft zum Opfer gefallen.
Welche Bedeutung messen Sie der Auswertung der Übung zu?
Wir hatten damals, jedenfalls solange ich verantwortlich war, mit allen Beteiligten das Agreement: Jeder nimmt so gut teil an der Übung, wie er kann und Defizite, die wir entdecken, werden intern schonungslos benannt, aber in der Auswertung gehen wir gestuft vor. Niemand wird öffentlich an den Pranger gestellt. Ziel war es, durch eine solche Vereinbarung Ängste abzubauen und die Motivation bei allen Beteiligten hoch zu halten. Und so haben wir eine gemeinsame Auswertung gemacht, die mit allen Beteiligten abgestimmt war. Diese war nicht weichgespült, sondern darin gab es ganz viele Hinweise auf strukturelle und fachliche Probleme und Herausforderungen, um das Fachthema bzw. die Strukturen verbessern zu können. Und dann gab es in jeder Organisation noch eine interne Auswertung, die die eigenen organisatorischen Schwächen schonungsloser darstellen konnte und bereits erste interne Maßnahmen zu Beseitigung beschrieb.
Die allgemeine Auswertung war in der Regel eine, die im Wesentlichen auf fachliche Defizite je nach Übungsszenarien abstellte. Und da waren natürlich immer die fachlich federführenden Ressorts in Bund und Ländern zuständig. Unsere Bemühungen, auch hier ein Mandat zu bekommen, um diese Auswertung nach einer gewissen Zeit noch mal verifizieren und die Abstellung der aufgezeigten Schwachstellen überprüfen zu können, sind leider nicht erfolgreich gewesen. Das war der wesentliche Schwachpunkt, glaube ich, der in dem umfangreichen LÜKEX-Prozess bestand. Im BMI haben wir jedoch immer großen Wert daraufgelegt, genau diese Evaluierung der internen Auswertung durchzuführen und die Handlungsfähigkeit der eigenen Struktur sicherzustellen.
Gibt es etwas von damals, das aus heutiger Sicht skurril wirkt?
Also was für mich aus heutiger Sicht skurril oder schwer verständlich war, dass es auf verschiedenen strategischen oder administrativen Ebenen keine Krisenstabsstrukturen zu Beginn der LÜKEX-Übungen gab. Dagegen konnten zu jeder Zeit operativ-taktische Krisenstäbe aufgerufen werden, die auch funktioniert haben. Darüber hinaus gab es auch auf der Ebene der Landkreise und kreisfreien Städte immer Strukturen, die regionale Lagen bewältigt haben. Aber darüber hinaus bestanden Lücken. Es war kein durchgängig strukturiertes Zusammenwirken bis zur Bundesebene sichergestellt. Das hatte natürlich etwas mit der Auslegung der Zuständigkeitsregelung im Grundgesetz zu tun. Die Praxis zeigt jedoch, dass in nationalen Lagen ein solches Krisenmanagementsystem unerlässlich ist. Ich denke, über die oben beschriebenen Defizite sind wir lange hinweg. Und das ist auch ein Verdienst der LÜKEX, ganz klar.
Was wünschen Sie der LÜKEX für die nächsten 20 Jahre?
Ich wünsche mir für die LÜKEX einen verlässlichen Übungsrhythmus. Nach der Übung 2018 hat es viele Jahre bis zur nächsten Übung gedauert. Ein zu langer Zeitraum zwischen den Übungen führt dazu, dass bei dem häufigen Wechsel von Personen in administrativen Organisationen viel Wissen verloren geht und niedergeschriebenes Wissen vielleicht auch hier und da in Aktenordnern verstaubt oder ungenutzt auf Festplatten ruht. Das Wichtigste ist es, eine klare Federführung, ein verlässlicher Rhythmus und partnerschaftlicher Umgang mit allen Akteuren zu vereinbaren. Es sollte allen Beteiligten bewusst sein, dass die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung in einem solchen Übungsvorhaben viele Ressourcen binden werden, diese jedoch hervorragend investiert sind. Es muss das Ziel der Beteiligten sein, unvoreingenommen die Strukturen und Fachplanungen verbessern zu wollen – wer dies nicht will, der soll es lassen und den Gesamtprozess nicht unnötig beschweren.
Was erwarten Sie von der LÜKEX, damit sie auch in 20 Jahren überhaupt noch relevant ist?
Dass jederzeit Themen geübt werden, die aktuell sind und mögliche Gefahrenlagen antizipieren, damit sie auch die Akzeptanz erreichen können. Jetzt wären dies ganz klar Themen aus dem Bereich der zivilen Verteidigung.